Das seit dem 16. März 2020 geltende Betretungsverbot für Kindertageseinrichtungen hat einschneidende Auswirkungen auf das Familienleben. In Nordrhein-Westfalen nehmen über 700.000 Kinder einen Betreuungsplatz in Anspruch. Über das Angebot der Notbetreuung werden derzeit landesweit etwa 4,4% der Kinder aus der Kindertagespflege und etwa 2,3% der Kinder aus den Kindertageseinrichtungen versorgt. Demnach werden aktuell circa 690.000 Kinder zu Hause vorrangig von ihren Eltern betreut.

Der Landeselternbeirat der Kindertageseinrichtungen in NRW (LEB) begrüßt die Bestrebungen, das Betretungsverbot in Einrichtungen der Kindertagesbetreuung stufenweise zu lockern und die derzeitige Notbetreuung auf weitere Berufs- und Bedarfsgruppen auszuweiten. Nach der angekündigten Ausweitung der Notbetreuung auf etwa 10% der Kinder müssen weitere Stufen definiert werden, zu denen die maßgeblichen Kriterien bereits heute diskutiert werden können. Der LEB fordert hierbei ausdrücklich die Berücksichtigung bereits gewonnener Erkenntnisse. So weisen isländische Datenanalysen darauf hin, dass Kinder weniger vom Coronavirus betroffen sind und die WHO geht davon aus, dass Kinder kein bedeutsamer Treiber für Übertragungen seien.1

Viele Eltern sind bereits heute an ihrer Belastungsgrenze angekommen: sie übernehmen die Kinderbetreuung, führen therapeutische Arbeit weiter, kümmern sich um die Verpflegung, organisieren Freizeitaktivitäten und arbeiten nebenher im Home Office, nehmen finanzielle Einbußen hin oder bangen schlichtweg um ihren Arbeitsplatz. Das erhöhte Stresslevel in den Familien hat psychische Auswirkungen auf alle Familienmitglieder.

Auch Eltern aus systemrelevanten Berufen sehen sich mit komplexen Herausforderungen konfrontiert: die Stressbelastung im Beruf hat zugenommen, zudem sehen sie sich und ihre Kinder einem erhöhten Infektionsrisiko ausgesetzt. Die bestehenden Notgruppen in der Kinderbetreuung bestehen dabei oft nur aus einer Handvoll Kinder, was nicht nur die sozialen Kontakte und den spielerischen Spaß deutlich einschränkt. Auch die Sorge des Fachpersonals vor einer Infektion hat Auswirkungen auf den alltäglichen Umgang und bringt zusätzliche psychische Belastungen für die Kinder mit sich.

Kinder benötigen für ihre Persönlichkeitsentwicklung insbesondere die Begegnungen mit Gleichaltrigen zur Förderung der emotionalen und sozialen Entwicklung 2. In früheren Zeiten wurden Kinder mit „Stubenarrest“ bestraft, für viele Kindergartenkinder ist dies momentan eine Dauersituation. Der LEB stellt fest, dass eine Reduzierung der familiären Stressbelastung – insbesondere der psychischen Belastung der Kinder durch soziale Isolation – nicht ausschließlich über eine Öffnung der Kinderbetreuungsangebote erfolgen kann. Ebenfalls können Möglichkeiten außerhalb der Betreuung geschaffen werden, um soziale Kontakte wiederherzustellen. Kleine, private Spielgruppen mit festem Teilnehmerkreis (Nachvollziehbarkeit der Kontaktgruppen) stellen nur eine der vielfältigen Möglichkeiten dar.

Bei einem Verzicht auf (teil-)offene pädagogische Konzepte ist die Nachvollziehbarkeit von Sozialkontakten jedoch in kaum einem System besser dokumentiert als in den Kinderbetreuungseinrichtungen.

Aus Sicht des LEB muss daher dringend für alle Eltern geklärt werden, ab wann und zu welchen Bedingungen eine regelmäßige Kinderbetreuung wieder stattfinden kann. Dabei muss auch weiterhin der Schutz der Gesundheit jedes Einzelnen an erster Stelle stehen, insbesondere Risikogruppen müssen in zukünftigen Betreuungsszenarien adäquat geschützt werden.

Für die Erarbeitung von möglichen Szenarien müssen zunächst technische Überlegungen angestellt werden: die Betrachtung unterschiedlicher Dimensionen wie beispielsweise Personalkapazitäten, räumliche Gegebenheiten oder Limitierungen in der Umsetzung von Hygieneauflagen. Aber auch sozialräumliche Kriterien (z.B. Familien mit beengtem Wohnraum, Kinder aus finanziell schwachen oder bildungsfernen Familien) und sozial-emotionale Komponenten (Therapiebedarfe, Entwicklungsbeeinträchtigungen, Umgang mit Geschwisterkindern, integrative Aspekte) sind gleichermaßen zu berücksichtigen. Anschließend ist – unter Angabe der voraussichtlichen Rahmenbedingungen des Betreuungsangebotes – eine Bedarfsermittlung auf Elternseite unabdingbar.

Angebotsermittlung anhand vorhandener Daten

Das MKFFI NRW führt seit dem 23. März 2020 Befragungen aller rd. 11.500 Kindertageseinrichtungen zur Betreuungssituation durch. Unter anderem wird hier erfasst, wie viel Personal (Fach- und Ergänzungskräfte) derzeit zur Verfügung steht und wie viel Personal tatsächlich eingesetzt wird. Diese Daten lassen bereits heute Rückschlüsse zu, wie viele Betreuungsplätze bei einer schrittweisen Öffnung der Betreuung maximal angeboten werden könnten. Geklärt werden muss in diesem Zusammenhang auch, ob die Vorgaben zu Mindestfachkraftstunden – welche derzeit in der Notbetreuung nicht erfüllt werden müssen 3 – wieder in Kraft gesetzt werden und ab wann.

Zusätzlich zur Dimension der Personalverfügbarkeit erwartet der LEB eine Vorgabe der Landesregierung zur anwendbaren Gruppengröße in der Kinderbetreuung bei einer schrittweisen Öffnung. Sollte die Landesregierung hier beispielsweise der Leopoldina folgen und eine Gruppengröße von maximal 5 Kindern pro Raum vorsehen 4, könnte über die räumlichen Gegebenheiten ebenfalls ein Maximum an Betreuungsplätzen definiert werden.

In der Mitschrift der Telefonschaltkonferenz der Bundeskanzlerin mit den Ländern heißt es: „Deshalb stehen Infektionsschutz und Hygienemaßnahmen überall und insbesondere dort, wo Kontakte notwendig sind, etwa in bestimmten Arbeitsumgebungen, besonders im Mittelpunkt.“5 Dieser Prämisse folgend, erwartet der LEB weitere Vorgaben der Landesregierung zur konkreten Umsetzung. Hier können beispielsweise die persönliche Schutzausrüstung, Distanzregeln oder Reinigungsintervalle definiert werden. Darauf aufsetzend kann der Bedarf an Reinigungskräften und -materialien sowie deren Verfügbarkeit, Bestand und Beschaffungsweg geklärt werden. Sicherlich werden hier limitierende Faktoren auftreten, welche eine Auswirkung auf die möglichen Betreuungsplätze und -zeiten haben.

Angebotsermittlung auf Basis sozialer Kriterien

Neben der geplanten Öffnung für Vorschulkinder fordert der LEB eine flächendeckende Empfehlung zu Kriterien, nach denen zusätzliche Bedarfsgruppen für eine stufenweise Öffnung der Kinderbetreuungsangebote ermittelt werden können. Die Festlegung kann nicht allein den örtlichen Jugendämtern überlassen werden. In einem solchen Fall steht zu befürchten, dass die kommunalen Ansätze teils stark auseinandergehen und sich ein Flickenteppich an Lösungsansätzen entwickelt, der Kinder und Eltern nicht mehr vermittelbar ist. Vielmehr muss die Landesregierung zeitnah Kriterien festlegen, welche beispielhaft auf Familienverhältnissen, Erwerbstätigkeit oder Sozialraum sowie dem individuellen Förderbedarf der Kinder fußen können.

Die derzeitigen Belastungen des Betretungsverbotes treffen besonders alleinerziehende Eltern, Eltern mit unzureichenden Sprachkenntnissen, psychisch Erkrankte und Erwerbslose. In finanziell schwachen oder bildungsfernen Familien fehlt es an materiellen, häufiger aber an psychischen und sozialen Ressourcen für die Kinderbetreuung, womit die bestehende soziale Ungleichheit in Bezug auf den Zugang zu frühkindlicher Bildung verstärkt wird.

Zudem sind Kinder mit Behinderung und Kinder mit erhöhtem Förderbedarf seit fast 5 Wochen ohne ihre übliche Tagesroutine, gewohntes soziales Umfeld und ohne Zugang zu Therapie. Hier besteht dringender Handlungsbedarf, um Entwicklungsrückschritte zu vermeiden.

Ermittlung der Nachfrage auf Elternseite

Sobald absehbar ist, unter welchen Bedingungen und für welche Bedarfsgruppen eine Kinderbetreuung wieder ermöglicht werden soll, müssen die betroffenen Familien befragt werden. Eltern wollen Klarheit haben, wie eine mögliche Betreuung aussehen wird, um ihre Optionen und die damit verbundenen Risiken abzuwägen. Personelle Kapazitäten und die Anwendbarkeit von Mindestfachkraftstunden lassen Rückschlüsse auf „betreuen und fördern“ oder „schlichtes Verwahren“ zu. Hygieneschutzauflagen und die Kenntnis über das Verhalten des eigenen Kindes lassen Rückschlüsse auf die tatsächliche Infektionsgefahr zu. Auch Gespräche mit dem Arbeitgeber zur zeitlichen Dauer der eingeschränkten Arbeitsleistung können sinnvoll geführt werden und der finanzielle Hintergrund kann adäquat in die zeitlichen Betrachtungen einfließen. Abschließend macht der LEB auf zwei weitere, wesentliche Herausforderungen aufmerksam:

Es ist unabdingbar, bereits heute die weiteren Schließzeiten zu überdenken. Viele Eltern haben aufgrund des Betretungsverbotes im weiteren Jahresverlauf keinen ausreichenden Urlaubsanspruch mehr, um Schließzeiten abzudecken und müssen die Betreuung ihrer Kinder anderweitig organisieren. Wir betrachten es als Aufgabe der Politik, den im weiteren Jahresverlauf absehbar erhöhten Bildungs- und Betreuungsbedarf in den Tageseinrichtungen durch eine entsprechende Erhöhung der Betreuungsangebote zu gewährleisten. Hierzu sind zeitnahe und transparente Bedarfserhebungen unter Mitwirkung der Eltern und ihrer Vertreter einzuleiten und eine Reduzierung von weiteren Schließungen, insbesondere in den Sommerferien, zu planen. Die Politik muss jetzt gemeinsam mit Trägern und Personal der Kindertageseinrichtungen die Planung konkreter Maßnahmen aufnehmen, um das benötigte Angebot realisieren zu können.

Offen ist die Frage der Elternbeiträge. Beiträge einfach weiter zu erheben, obwohl gänzlich unklar ist, ab wann, in welcher Form und mit welchen Risiken eine Betreuung wieder angeboten wird, ist nicht hinnehmbar. In Abhängigkeit ihrer Haushaltssituation sind einzelne Kommunen hier freier in der Entscheidung und haben bereits signalisiert, Eltern auch über den Monat April hinaus zumindest teilweise zu entlasten.

Der LEB fordert, den kommunalen Flickenteppich bezüglich der Erhebung oder Nicht-Erhebung von Elternbeiträgen sofort und ein für alle Male zu beenden. Zur Auffassung des Ministeriums für Heimat, Kommunales, Bau und Gleichstellung (MHKBG) NRW, dass „ein zeitlich geringfügigeres Entfallen der Leistung von einigen Tagen durch Streikmaßnahmen oder eine krankheitsbedingte Schließung der Einrichtung von wenigen Tagen die Gebührenentrichtungspflicht nicht entfallen lässt“6, bleibt nur zu ergänzen, dass entsprechend eine Beitragspflicht nicht besteht, wenn die Betreuungsleistung für eine verhältnismäßig nicht unerhebliche Zeit (ca. 5 Tage in Analogie zu §616 BGB) entfällt. Entsprechend fordert der LEB das weitere Aussetzen der Elternbeitragserhebung über den April hinaus. „Keine Leistung ohne Gegenleistung“7 wurde vom LEB bereits in seiner Stellungnahme zum KiBiz im Sommer gefordert.8

1 vgl. https://www.n-tv.de/wissen/Tragen-Kinder-kaum-zur-Corona-Welle-bei-article21716973.html
2 vgl. https://www.sonntagsblatt.de/leopoldina-lockerung-kinderrechte-mehr-beruecksichtigen
3 vgl. https://www.lvr.de/media/wwwlvrde/jugend/service/arbeitshilfen/dokumente_94/kinder_und_familien/tageseinrichtungen_f_r_kinder/coronavirus/200315_Fachempfehlung_Nr.3_Personaleinsatz_Offizielle_Information_Land_NR W15.03.2020.pdf
4 vgl. https://www.welt.de/bin/Leopoldina-Corona-Krise_bn-207230477.pdf (Seite 13)
5 vgl. https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/telefonschaltkonferenz-der-bundeskanzlerin-mit-denregierungschefinnen-und-regierungschefs-der-laender-am-15-april-2020-1744228
6 vgl. https://www.lvr.de/media/wwwlvrde/jugend/service/arbeitshilfen/dokumente_94/kinder_und_familien/tageseinrichtungen_f_r_kinder/coronavirus/200327Erlass_HKBG_zu_Elternbeitraegen.pdf
7 vgl. Kolbe, Sebastian, BB 2009, 1414-1416 (Heft 26).
8 vgl. https://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/MMST17-1789.pdf, Seite 17.